Der heilige Martin, einmal aus einem anderen Blickwinkel gesehen.

Der heilige Martin: Vollmacht ohne Weihe

 

Poitiers, Ende der sechziger Jahre des vierten Jahrhunderts. Ein junger Mann ist fasziniert von der radikalen Christusnachfolge des Martin von Tours, der ein Kloster mit strengster Askese gegründet hat. Der Jüngling meldet sich zum Taufunterricht an; er will zuerst Christ und dann Mönch werden. Als Martin für einige Tage abwesend ist, wird der Taufbewerber von einem starken Fieber befallen und stirbt. «Unter Tränen und Seufzen kam Martin hinzu. Doch er fühlte sich innerlich vom Heiligen Geist erfüllt. Er wies deshalb die Brüder aus der Zelle, in der der Tote lag. Dann verriegelte er die Tür und legte sich über die entseelten Glieder des verstorbenen Bruders. Er betete eine Zeitlang innig und fühlte daraufhin, dass der Geist ihm eine besondere Kraft des Herrn mitteilte. Dann richtete er sich ein wenig auf, blickte unverwandt auf den Toten und wartete voller Zuversicht auf die Frucht seines Gebetes und der göttlichen Barmherzigkeit. Kaum waren zwei Stunden vergangen, da sah er, wie der Tote nach und nach alle Glieder bewegte; die Augen öffneten sich und begannen blinzelnd zu sehen … ein wunderbares Schauspiel: Sie sahen den leben, den sie tot verlassen hatten.»’

Sulpicius Severus, dem wir die Heiligenvita Martins verdanken, berichtet in seiner Lebensbeschreibung mehrfach von Wundern aller Art, von Heilungen und sogar Totenauferweckungen, aber auch von Sündenvergebungen. Martin von Tours konnte diese als Asket und Mönch, so stellt es Sulpicius Severus dar, aufgrund der Radikalität seiner Nachfolge Jesu Christi vollbringen. Die Vollmacht und die Fähigkeit zu diesen Handlungen, auch der Sündenvergebung, stammt dabei nicht aus der Bischofsweihe, die Martin erst Jahre später, im Jahr 371, erhalten sollte. Martin war, wie ursprünglich alle Mönche, ein Laie, als er den Toten zum Leben erweckte. Wie Sulpicius Severus weiter berichtet, stand ihm nach seiner Bischofsweihe «während seiner bischöflichen Amtsverwaltung keineswegs die gleiche Wunderkraft zu Gebot…, über die er früher … verfügen konnte».

Diese Aussage von Sulpicius Severus steckt voller Sprengkraft. Denn sie führt mitten hinein in die äußerst kontroversen Debatten um das kirchliche Amt: Nach heutigem Verständnis erhält der – männliche – Amtsträger alle jurisdiktionellen, sakramentalen und seelsorgerlichen Vollmachten, die er für das Heil und Glück der ihm anvertrauten Gläubigen benötigt, durch das Sakrament der Weihe. Deshalb wird heute angesichts des grassierenden Priestermangels intensiv über alternative Zugänge zum Amt diskutiert: Zum ersten werden sogenannte Viri probati vorgeschlagen, also verheiratete, in Beruf und Familie bewährte Männer, die nicht mit fünfundzwanzig Jahren, sondern erst jenseits der Vierzig die Priesterweihe erhalten sollen. Zum zweiten wird ein Ende der Zölibatspflicht verlangt. Und zum dritten geht es um eine Öffnung des Amts, wenigstens des Diakonats, auch für Frauen. Reformen in diesen Bereichen sind angesichts der eindeutigen Position, die Rom dazu in den letzten Jahren eingenommen hat, allerdings nicht zu erwarten.

Vielleicht bietet das Beispiel des Martin von Tours eine Möglichkeit, das Thema einmal anders anzugehen. Während es für das heutige Amtsverständnis außer Frage steht, dass seelsorgerliche Kompetenzen wie die Sündenvergebung durch die Weihe übertragen werden, scheint Sulpicius Severus die Bischofsweihe kritisch zu sehen, wenn er beschreibt, dass Martins Fähigkeiten nach seiner Weihe geschwächt gewesen seien. Das kann an der Weihe selbst liegen, die den Status des asketischen Mönches aufhebt, oder an den mit der Weihe verbundenen Amtspflichten und den Präsentationsaufgaben, die Martin von Tours möglicherweise daran gehindert haben, ausreichend Zeit für Askese und Gebet aufzubringen. Die Totenerweckung geschah nicht nur aufgrund der göttlichen Barmherzigkeit, also durch Gnade, sondern war – wie Sulpicius Severus schreibt – wesentlich Frucht des Gebets und der radikalen Nachfolge Jesu, beruhte also auf einer Glaubensleistung Martins, die er sich hart erarbeiten musste.

Kirchenhistorisch gesehen ist bemerkenswert, dass Martin die Vollmacht zur Sündenvergebung hatte, und zwar aufgrund seiner radikalen Nachfolge Christi und nicht aufgrund einer ihm übertragenen Weihegnade, die nach der Lehre der katholischen Kirche unabhängig von der Würdigkeit des Empfängers wirkt. Martin von Tours ist in dieser Hinsicht keineswegs eine Ausnahme. Im Gegenteil: Wie der Münsteraner Kirchenhistoriker und ausgewiesene Mittelalterspezialist Arnold Angenendt überzeugend nachgewiesen hat, war Martin von Tours der Prototyp eines vorbildlichen Mönchs. Deshalb gilt es, den Blick auf einen oft vergessenen dritten Stand in der Kirche jenseits von Klerikern und Laien zu werfen: die Mönche und Nonnen und ihre besondere Form der Christusnachfolge.

 

Auszug aus dem Buch „Krypta“ von Hubert Wolf, C.H. Beck-Verlag 2015, S.115-117 mit freundlicher Genehmigung von Autor u. Verlag.

Bilder: St. Martin Augsburg Oberhausen

A. Stiegelmayr